Das WIPIG-Interview mit Margit Schlenk zum Thema "Genderpharmazie"
Eine ideale pharmazeutische Beratung würde neben biologischen Unterschieden auch weitere Diversitätsdomänen berücksichtigen – z.B. Unterschiede im soziokulturellen Umfeld und individuelles Lebensstilverhalten. Diese Idealvorstellung ist in der Praxis aktuell nicht durchführbar, weil wissenschaftlich noch zahlreiche Lücken zu füllen sind.
Wir sprachen mit Margit Schlenk, Inhaberin der Moritz-Apotheke, Nürnberg, über die Thematik.
Warum liegen heute noch keine ausreichenden Erkenntnisse und Daten zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Pharmakotherapie vor?
Ich würde diese Aussage so nicht bestätigen, denn es liegen auch heute schon sehr viele Erkenntnisse vor, die aber zu wenig Eingang in die Forschung bei alten und neuen Arzneistoffen finden, weil es unglaublich kostenträchtig für die Industrie ist, die gegebenen Unterschiede im Studiendesign zu beachten. Neben den Subgruppen „Frau“ und „Mann“ müssten bei der Frau die Zyklusphasen – Eisprung, Progesteron-, Östrogenphase, Postmenopause – beachtet werden. Wenn man diese hormonellen Veränderungen allesamt in Studien einbezieht, so wäre das mit einer enormen Kostensteigerung verbunden und man bräuchte eine unglaublich große Anzahl an Probandinnen.
Vermeintlich banale geschlechterbedingte physiologische Unterschiede haben in der Arzneimitteltherapie große Auswirkungen. Zum Beispiel sind Frauen i.d.R. kleiner und leichter als Männer, so dass aus der gleichen Dosis ein höheres Nebenwirkungspotential resultieren kann. Auf welche Wirkstoffe müssen wir in der Praxis ein besonderes Augenmerk legen?
Vor allem zu bedenken sind sehr hydrophile und sehr lipophile Arzneistoffe, denn durch die Unterschiedlichkeit der Körperzusammensetzung von Mann und Frau resultieren bei gleicher Dosis des Wirkstoffs unterschiedliche Blutspiegel durch unterschiedliche Verteilungsräume der Arzneistoffe im hydrophilen oder lipophilen Milieu. Typische Beispiele wären Diazepam und Midazolam – auf Grund der Lipophilie wirken sie bei Frauen länger. Solche geschlechtsspezifischen Unterschiede wurden auch für Muskelrelaxantien beschrieben.
Auf welche Wirkstoffgruppen muss man in der Praxis ein besonderes Augenmerk richten?
Unter anderem auf ß-Blocker. Der Abbau von Metoprolol, Carvidolol oder Nebivolol erfolgt insbesondere über CYP2D6. Nach einer Standard-Tagesdosis haben Frauen im Vergleich zu Männern höhere maximale Plasmakonzentrationen. Die Konzentrations-Wirkungs-Beziehung zwischen Plasmakonzentration und Senkung der Herzfrequenz bei Männern und Frauen ist aber gleich und deshalb treten bei Frauen bei gleicher Dosierung deutlich stärkere Nebenwirkungen auf. ß-Blocker, die unabhängig von CYP2D6 metabolisiert werden, wie Sotalol, Bisoprolol oder Atenolol, zeigen keine geschlechterspezifischen Unterschiede, so dass sie für Frauen besser geeignet sein können.
Beraten Sie Frauen bei bestimmten Erkrankungen anders als Männer?
Grundsätzlich gibt und gab es schon immer männer- und frauenspezifischen Themen, denen eine Geschlechterunterscheidung zugrunde liegt und in der Beratung eine besondere Beachtung zur Folge haben. Bei Erkrankungen, die beide Geschlechter gleichermaßen betreffen, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ist zu beachten, dass Frauen bei ACE-Hemmern und ß-Blockern mehr Nebenwirkungen haben können. Hier sollte man gezielt nachfragen, wie sich die Verträglichkeit darstellt. Ein weiteres Beispiel wäre ASS 100 zur Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse – für gesunde Frauen ab dem 45 Lebensjahre ist ASS 100 zur Vermeidung von Herzinfarkten gar nicht so gut geeignet ist, dafür reduziert sich aber das Risiko für Schlaganfälle. Ab dem 65. Lebensjahr ändert sich die Sache dann wieder. Hier ist also ein Nachhaken nötig, welche Effekte genau erzielt werden sollen.
Präventiven Maßnahmen stehen Frauen i.d.R. aufgeschlossener gegenüber als Männer. In Ihrer Apotheke führen Sie auch Ernährungsberatungen und Programme zur Tabakentwöhnung durch. Beraten Sie hier geschlechterspezifisch?
Ja, das tue ich und zwar muss ich bei den Präventionsprogrammen das Motivational Interviewing in der Beratungssprache anders gestalten. Wenn ich Männer berate, nutze ich eher technische Begriffe und stelle zum Beispiel den Körper als Motor dar, bei Frauen muss ich häufig eher empathische Motive herauskitzeln, wenn sie beispielsweise das Rauchen beenden möchten. Gerade in der Beratungssprache beachte ich die Unterschiede von Mann und Frau in ihren Lebenswelten.
In der Apotheke müssen wir immer bedenken, dass wir Individuen vor uns haben. Wir müssen die Menschen in ihren Lebenswelten optimal betreuen. Und eine Lebenswelt von vielen ist „Bist du männlich?“, „Bist du weiblich“, „Bist du divers?“, denn das bedingt ganz unterschiedliche Hintergründe, wie jemand lebt, wie jemand sich ernährt, welche Gesundheitsaspekte zu bedenken sind und dann wie jemand beraten und behandelt werden muss. Medizin und Pharmazie müssen individueller werden.
Vielen herzlichen Dank, Margit Schlenk, für das Gespräch. (Das Gespräch führte X. Steinbach)